Stolperstein für Henny Dreifuss
Alice Czyborra und Silvia Gingold zur Stolperstein Verlegung
Unser Cousin Daniel war am 11. Oktober aus New York nach Mannheim gekommen, um der Verlegung der Stolpersteine für seine Mutter Maya Dafner, für seine Großeltern und Mayas Geschwister beizuwohnen. Es war uns wichtig, ihn dabei zu begleiten.
Am 22. Oktober 1940 wurden ca. 6500 badische und pfälzische Jüdinnen und Juden in das berüchtigte Lager Gurs in Südfrankreich am Fuß der Pyrenäen deportiert, darunter auch unsere Angehörigen, die Mannheimer jüdische Familie Dafner. Christliche, gewerkschaftliche, soziale Organisationen und Gruppen der Résistance versuchten, so viele Kinder wie möglich aus den Lagern Gurs und Rivesaltes herauszuholen, in denen katastrophale Lebensbedingungen herrschten. Maya, ihre Mutter und ihre Geschwister verdanken ihr Überleben den couragierten Rettungsaktionen französischer Menschen.
In Mannheim erfuhren wir, dass am gleichen Tag auch ein Stolperstein für Hennriette Dreifuss verlegt werden sollte. Henny Dreifuss gehörte zu den Retterinnen und Retter der Kinder aus Gurs und Rivesaltes.
Henny Dreifuss war als 9jährige mit ihren Eltern und ihrem Bruder bereits 1933 aus Mannheim nach Frankreich geflohen. 1940, nach der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht, arbeitete sie als Heranwachsende in einem Kinderheim in Limoges, In ihren Erinnerungen schreibt sie: „Es ist uns gelungen, Kinder aus Gurs herauszubekommen. Ich habe dort Kinder abgeholt, selbst das ganze Elend gesehen. Die Kinder waren schwach, unterernährt und verlaust. Die Trennung war für die Kinder und Eltern schrecklich gewesen.“ 1) Unter Tränen berichtete Henny in der Dokumentation „Frankreichs fremde Patrioten -Deutsche in der Résistance“, wie die Polizei 1942 bei Nacht und Nebel die Kinder aus den Betten holte, sie mit ihren Eltern wieder zusammenführte, um sie gemeinsam nach Auschwitz zu deportieren.
„Soll ich jetzt warten, bis auch ich abgeholt werde, soll ich mich verstecken oder schließe ich mich der Résistance an“, fragte sich Henny, nachdem das Kinderheim in Limoges aufgelöst werden musste. Henny ging in den Widerstand, schloss sich der Gruppe „Travail Allemand“ innerhalb der Résistance an.
Nach der Befreiung vom Faschismus kehrte Henny Dreifuss nach Deutschland zurück Sie lebte und arbeitete als Journalistin in Düsseldorf. Sie war Mitglied der Kommunistischen Partei, gewerkschaftlich aktiv und engagierte sich in der VVN. Über die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf wurde sie als gefragte Zeitzeugin zu Gesprächen und Begegnungen, besonders mit Jugendlichen, eingeladen. Henny Dreifuss starb 2017 mit 93 Jahren.
Der Bürgermeister der Stadt Mannheim, Dirk Grunert, würdigte in seiner Rede „die Leistungen von Henny Dreifuss im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, um ihr als Verfolgte des NS-Regimes zu gedenken und um die Erinnerung an die Familie Dreifuss zu vervollständigen.“ Der Stolperstein für Henny Dreifuss liegt nun neben denen ihrer Eltern Rosa und Eugen Dreifuss und ihrem Bruder Bernhard. Ihre Familie wurde in den Vernichtungslagern ausgelöscht.
Für uns war der 11. Oktober ein bewegender Tag im Gedenken an die geretteten Angehörigen unserer Familie und an Henny Dreifuss, die an der Rettung der Kinder aus Gurs beteiligt war und sich der Résistance anschloss. Mit Henny Dreifuss war unsere Familie eng verbunden.
1) Ulla Plener „Frauen aus Deutschland in der französischen Résistance
Rede von Bürgermeister Dirk Grunert zur Stolperstein-Verlegungen
Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Familien Kopito, Demayo, Zucker-Merlin, Schlitt, Goldhagen, Walker, Blomberg, Seelig, Nagorsky-Israel und Graetzer,
ich darf Sie im Namen der Stadt Mannheim, des Oberbürgermeisters und des Gemeinderats herzlich zu den heutigen Stolpersteinverlegungen begrüßen. Ich freue mich, dass viele Angehörige den zum Teil weiten Weg aus Israel, den USA, Schweden, Frankreich und verschiedenen Orten Deutschlands auf sich genommen haben, um der Verlegung von Stolpersteinen zum Gedenken an ihre Vorfahren beizuwohnen. Ich möchte Sie in Mannheim herzlich willkommen heißen und danke Ihnen für Ihr Kommen.
In Mannheim wurden bis März dieses Jahres insgesamt 213 Stolpersteine verlegt. Diese erinnern an Menschen, die in der NS-Zeit diffamiert, gedemütigt, ausgegrenzt, entrechtet, verfolgt und in die Emigration getrieben oder ermordet wurden. Die Stolpersteine erinnern an Jüdinnen und Juden, an Sinti und Roma, an Widerstandskämpferinnen und -kämpfer, an die Opfer der sogenannten Euthanasie-Verbrechen, ebenso an Menschen, die im Nationalsozialismus zwangssterilisiert wurden.
Sie erinnern an verfolgte Homosexuelle, an Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie die Opfer des KZ-Außenlagers in Mannheim-Sandhofen, aber auch an Menschen, die als vermeintlich „Asoziale“ diffamiert und verfolgt wurden oder wegen Bagatelldelikten vom Mannheimer Sondergericht als sogenannte „Volksschädlinge“ zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden.
Heute und morgen kommen 32 Stolpersteine hinzu. 32 Menschen unserer Stadt, denen wir mit Stolpersteinen ein würdiges und dauerhaftes Andenken verschaffen wollen. Nahezu alle von ihnen waren Jüdinnen und Juden – oder wurden von den Nationalsozialisten als solche erachtet.
Wir gedenken mit diesen Stolpersteinen Else Bartosch, Anna Haas, Max und Martha Rath, Tobias Dafner, Berta Baum, Jenny Rothschild, Heinrich und Martha Grosz sowie Hermann und Selma Kahn, die alle im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet wurden. Wir gedenken Felix Flattau, der 1934 in Mannheim starb, und Arthur Baer, der das Ghetto Theresienstadt überlebte. Wir gedenken Alfred Bodenheimer, Klara Scharff und Otto Straus, die sich gemeinsam am 22. Oktober 1940 das Leben nahmen, um der Deportation nach Gurs zu entgehen.
Doch wir wollen auch an diejenigen NS-Verfolgten erinnern, denen die Flucht ins rettende Ausland geglückt ist, wo sie überlebten. Wie Hans Ludwig Seelig, der 1936 nach Dänemark floh und später nach Palästina emigrierte. Wie die Familie Alfred, Erna und Fritz Norbert Stock, die 1937 nach Uruguay emigrierte; und die Brüder Peter und Klaus Graetzer, die im gleichen Jahr mit ihren Eltern nach Ecuador flohen. Wir gedenken auch Jenny Flattau und ihrer Tochter Mathilde, die 1939 nach Palästina auswanderten. Und wir wollen Felix Grosz nicht vergessen, der 1939 im Alter von 2 Jahren mit einem Kindertransport nach Schweden gerettet wurde.
Gerettet wurden dank dem herausragenden Engagement französischer, schweizerischer und amerikanischer Organisationen auch zahlreiche Kinder und Jugendliche aus dem Lager Gurs und anderen in Südfrankreich gelegenen Lagern, in die die Nationalsozialisten im Oktober 1940 allein aus Mannheim fast 2.000 Jüdinnen und Juden deportiert hatten.
Die Geschwister Maya, Herta und Siegbert Dafner (1 bis 14 Jahre alt) wurden von den Quäkern sowie dem französischen Kinderhilfswerk aus dem Lager Rivesaltes befreit und bis Kriegsende versteckt. Auch an diese Kinder erinnern seit heute Vormittag Stolpersteine in Mannheim. Ebenso wie an ihre Mutter Fanny, die gleichfalls in Frankreich überlebte.
Darüber hinaus wird auch des antifaschistischen Widerstands gedacht. Mit den Stolpersteinen für Karl Liesecke und Erwin Strohmeier erinnern wir an zwei Mannheimer Kommunisten, die in Deutschland als politische Gegner des NS-Regimes verfolgt wurden und im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Internationalen Brigaden gegen die Faschisten Francos kämpften. Beide kamen in Spanien ums Leben.
An dieser Stelle, vor dem Haus Goethestraße 18, befinden sich, wie Sie sehen, bereits drei Stolpersteine. Es waren die allerersten Steine, die vor 15 Jahren in Mannheim verlegt wurden. Sie erinnern an drei Mitglieder der jüdischen Familie Dreifuss, die in der Shoah ermordet wurden. An der Stolperstein-Verlegung im Mai 2007 nahm Henriette (genannt Henny) Dreifuss teil, die Tochter des Ehepaars Eugen und Rosa Dreifuss, und Schwester von Bernard Dreifuss. Ihr war es damals ein großes Bedürfnis, die Patenschaft für die Stolpersteine für ihre Familie zu übernehmen. Mit der heutigen Verlegung eines Stolpersteins für Henny Dreifuss selbst schließt sich sozusagen der Kreis.
Henriette Dreifuss war 1933 mit ihrer Familie nach Frankreich emigriert, wo sie nach dem deutschen Überfall mit falschen Papieren untertauchte und sich im Alter von 19 Jahren der Résistance anschloss. Unter anderem war sie daran beteiligt, jüdische Kinder aus den Lagern Gurs und Rivesaltes zu befreien und zu verstecken. Sie überlebte in Frankreich, kehrte nach dem Krieg für einige Jahre nach Mannheim zurück und lebte dann bis an ihr Lebensende in Düsseldorf, wo sie als Journalistin arbeitete und sich Zeit ihres Lebens in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) engagierte. Am 12. September 2017 starb Henny Dreifuss im Alter von 93 Jahren.
Hans-Joachim Hirsch, ehemaliger Mitarbeiter des Mannheimer Stadtarchivs, heute MARCHIVUM, war mit Frau Dreifuss lange Zeit in Kontakt und hat bereits vor mehreren Jahren angeregt, auch für sie einen Stolperstein in der Goethestraße zu verlegen – um ihre Leistungen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu würdigen, um ihr als Verfolgte des NS-Regimes zu gedenken und um die Erinnerung an die Familie Dreifuss zu vervollständigen.
Ich freue mich, dass der Arbeitskreis Stolpersteine dieser Anregung gefolgt ist und wir nun einen Stein für Henny Dreifuss verlegen können.
In Mannheim, wie in vielen anderen Städten, sind Stolpersteine ein fester Bestandteil der lokalen Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus. Mein herzlicher Dank gilt daher dem Mannheimer Arbeitskreis Stolpersteine, einem bürgerschaftlichen Zusammenschluss mehrerer Vereine, Organisationen und Einzelpersonen, der mit Unterstützung des MARCHIVUM seit nunmehr 16 Jahren die Stolpersteinverlegungen in unserer Stadt initiiert, koordiniert und organisiert. Dieses herausragende Engagement gegen das Vergessen verdient unsere Hochachtung und wird auch in Zukunft die volle Unterstützung der Stadt Mannheim finden.