Lothar Letsche zur Feier 70 Jahre VVN in Mannheim

22. Februar 2018

 

Lothar Letsche (links) mit Fritz Reidenbach

Nach Stichworten, die Punkte aus den vorausgegangenen Programmteilen aufgriffen, wurde spontan ein Redebeitrag improvisiert. Er wurde anschließend aus dem Gedächtnis rekonstruiert.

1. Vorhin wurde ein Film gezeigt: Fahrzeuge und Soldaten der US-Armee rücken im Frühjahr 1945 nach Mannheim in das heutige Baden-Württemberg ein. Es war eine zerstörte Brücke über den Rhein zu sehen. Das hat mich sehr berührt. Eine ähnliche Brücke gab es damals über die Donau bei Donauwörth. Dass sie zerstört war, verhinderte im April 1945, dass der Zug mit Häftlingen aus dem Zuchthaus Ludwigsburg weiter fahren konnte. In ihm saß mein Vater. Er war seit 1940 einer der politischen Gefangenen in Ludwigsburg gewesen. Alle sollten sie nach Mauthausen gebracht werden. Nun wurden sie in das Zuchthaus Kaisheim bei Donauwörth verfrachtet. Dieses Zuchthaus verwechselten die anrückenden USA-Truppen zuerst mit einer SS-Kaserne und beschossen es. Dann kamen sie als Befreier. Ohne diese zerstörte Brücke bei Donauwörth säße ich vielleicht heute nicht hier.

2. Zur Organisationsgeschichte der VVN: In Stuttgart lief es etwas anders ab als in Mannheim. In Stuttgart hatte bis August 1945 eine französische Militärregierung das Sagen. Hinter den Kulissen stritten sich die Generäle Eisenhower und de Gaulle über die Zuständigkeit für dieses Industrie-und Verkehrszentrum. Die Antifaschistinnen und Antifaschisten konnten dort bereits im Juni 1945 eine „Vereinigung der politischen Gefangenen und Verfolgten des Nazi-Systems“ gründen. Diese Stuttgarter Gründung wurde dann auch von den Amerikanern anerkannt und war die erste Vorläufer-Organisation der VVN im heutigen Baden-Württemberg. Ihr 2. Vorsitzender war der bereits erwähnte Willi Bleicher. Ich habe mich sehr gefreut über die Bemerkung des sozialdemokratischen Kameraden, dass die Beschäftigung mit Willi Bleicher ihn dazu gebracht hat, Mitglied der VVN-BdA zu werden. Im Beirat dieser damaligen Vereinigung saß übrigens der von den Franzosen neu eingesetzte Oberbürgermeister Dr. Arnulf Klett. Zur Klarstellung muss man sich vergegenwärtigen, was damals – und auch später in der VVN – unter „politisch Verfolgten“ verstanden wurde. Gemeint waren alle, die aufgrund der Politik der Nazis verfolgt wurden. Nicht nur die politischen Widerstandskämpfer im engeren Sinne, sondern ausdrücklich auch die rassisch und religiös Verfolgten, also die Juden, Sinti und Roma, bekennenden Christen, Bibelforscher undsoweiter. Bei allen ging man davon aus, dass ihre Verfolgung auf Nazipolitik beruhte. Sie alle wurden betreut und bekamen einen Ausweis, wo es das gab, mit Zugang zu den entsprechenden Vergünstigungen, wenn es welche gab, und konnten und sollten Mitglied der VVN werden, als das möglich wurde. Ab der erwähnten Landeskonferenz im März 1946 wurden alle örtlich entstandenen Betreuungsstellen vernetzt über einen „Landesausschuss der Betreuungsstellen der politisch Verfolgten in Württemberg-Baden“. Er hatte seinen Sitz in Stuttgart und war die eigentliche organisatorische Keimzelle der VVN. Ab Januar 1947 gab er ein Mitteilungsblatt mit dem Titel „VVN-Nachrichten“ heraus, denn er war vernetzt mit den Bemühungen, in allen damaligen deutschen Ländern in allen vier Besatzungszonen und Berlin in dem Rahmen, wie es damals die Besatzungsmächte zuließen, VVN-Organisationen zu gründen. Auf der ersten Interzonen-Konferenz der VVN im März 1947 wurde berichtet, dass eine VVN in Württemberg-Baden bereits bestehe. Der entscheidende Schritt erfolgte aber erst bei einer zweiten Landesdelegiertenkonferenz am 17. Mai 1947 in Stuttgart in der Gaststätte Rebstöckle – dem Gebäude, in dem sich heute das Linke Zentrum Lilo Herrmann befindet. Dort wurde, wie die „Badischen Neuesten Nachrichten“ damals formulierten, die „Umwandlung“ des Landesausschusses in eine VVN beschlossen. Die Delegierten waren in Versammlungen der örtlichen Betreuungsstellen gewählt worden. Beschlossen wurde auch eine Satzung der VVN für Württemberg-Baden. – Den 70. Jahrestag dieses Ereignisses wollen wir am 2. Juli 2017 im Linken Zentrum Lilo Herrmann feiern.

In der französischen Besatzungszone liefen die Dinge etwas anders. In Lörrach war schon am 15. März 1947 und in Freiburg am 1. Juni 1947 aus den örtlichen Betreungsstellen heraus eine VVN gegründet worden. In Tübingen erfolgte die Gründung für Württemberg-Hohenzollern am 31. August 1947. Auch die Gründungen in Freiburg und Tübingen wollen wir in geeigneter Weise feiern.

3. Zu den Belastungen, denen die VVN ab 1948 ausgesetzt war, möchte ich anmerken, dass die Vorstöße der SPD Führung, die zu dem erwähnten Abgrenzungsbeschluss führten, zeitgleich einsetzten mit der Währungsreform vom Juni 1948, die Deutschland in zwei getrennte Währungsgebiete spaltete. Die neuen DM-Banknoten kamen, wie man weiß, fertig gedruckt aus den USA.

Erwähnen muss man auch den sogenannten Adenauer-Erlass. Bundeskanzler Konrad Adenauer scharte – es wurde erwähnt – solche hochbelasteten Figuren um sich wie den Kommentator der Nürnberger „Rassegesetze“ Hans Globke als Staatssekretär. 1950 sorgte er für einen Erlass, der Antifaschistinnen und Antifaschisten, die in öffentliche Ämter oder den öffentlichen Dienst gelangt waren, wie es ja überall hätte sein müssen, vor die Wahl stellte, entweder die VVN zu verlassen oder ihr Amt und die Arbeit zu verlieren. Das beeinträchtigte nicht nur die Bündnisbreite der VVN. Es hatte auch für die Betroffenen tragische Folgen.

Einer der zeitweise engsten Mitarbeiter von Lilo Herrrmann – um nur ein Beispiel zu nennen – musste blutenden Herzens aus der von ihm mit gegründeten VVN austreten, weil er sonst nicht mehr in der Lehrerbildung hätte arbeiten können. Er wurde Professor für Soziologie und Politik an der PH Ludwigsburg.

4. Der Adenauer-Erlass war der direkte Vorläufer des „Radikalenerlasses“ von 1972. Einige Betroffene sind hier anwesend, einschließlich meiner Wenigkeit. Selbstverständlich hat sich die VVN-BdA immer in die Auseinandersetzung um die Berufsverbote aktiv eingeschaltet, auch wenn man ihr dafür die Gemeinnützigkeit absprechen wollte.

Bei unserem politischen Engagement vergessen wir natürlich nie, dass es unsere wichtigste und vornehmste Aufgaben ist, im Sinne des Vermächtnisses unserer Gründergeneration die Erinnerung an Verfolgung und Widerstand wachzuhalten. Der Landtag von Baden-Württemberg führt jedes Jahr am 27. Januar, dem vom Bundespräsidenten initiierten Gedenktag, eine Gedenkveranstaltung für die Naziopfer durch. Die „Opferorganisatioen“, zu denen auch wir gehören, sind an der Vorbereitung beteiligt. Hier wird unsere Rolle darin gesehen, die Belange der „politischen Verfolgten“ im engeren Sinn zu vertreten – also derer, die wegen ihrer politischen Gegnerschaft zu den Nazis verfolgt wurden. Wenn wir das nicht täten, täte es niemand. Also, dieses Jahr waren wir dran und unsere Landessprecherin Ilse Kestin hat vor dem Landtag namens der VVN-BdA ein eindrucksvolles Grußwort gehalten.

Das hat offenbar die AfD sehr geärgert. Sie brachte im Landtag eine Anfrage wegen der Gemeinnützigkeit der VVN-BdA ein, die vom Finanzministerium recht kühl und sachlich beantwortet wurde. Demagogisch stellt die AfD die Frage, wie viele Mitglieder der VVN-BdA eigentlich Naziverfolgte seien – 72 Jahre später. Was sie damit erreichen wollen, ist klar. Aber sie werden es nicht erreichen.

Leider hat das Ganze aber einen harten Kern, den wir ernst nehmen müssen. Es gibt den § 51 der Abgabenordnung. Er besagt, wenn eine Organisation irgendwo in einem „Verfassungsschutz“bericht genannt wird, kann ihre Gemeinnützigkeit in Frage gestellt werden. In Bayern steht die VVN-BdA immer noch in diesem Bericht.

In Baden-Württemberg ist das seit 2012 nicht mehr so. Das heißt aber nicht, dass keine Bespitzelung mehr stattfände. Der Heidelberger Antifaschist Michael Csaszkóczy, Mitglied bei uns, der Berufsverbot hatte und sich seine Einstellung als Lehrer vor zehn Jahren einklagen musste, hat den „Verfassungsschutz“ verklagt, seine Bespitzelung endlich einzustellen. Diesen Prozess hat er vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe leider verloren. Noch schlimmer ist, was in den Schriftsätzen des hessischen „Verfassungsschutzes“ steht, die im Verfahren von Silvia Gingold eingereicht wurden. (Wer die Familie Gingold ist, setze ich
als bekannt voraus.) Auch in Hessen steht die VVN-BdA nicht im „Verfassungsschutz“bericht, aber Silvia wird unentwegt bespitzelt. Der Schwur von Buchenwald, schreiben diese Herrschaften, das Ziel der „Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln“, sei eine besonders infame Taktik, um der VVN-BdA ein angeblich kommunistisches Faschismusverständnis überzustülpen, nach dem jede Form von Kapitalismus angeblich nur eine Vorstufe von Faschismus sei. Solcher politischer Schwachsinn, der die Buchenwald-Häftlinge beleidigt, wird uns nicht abhalten, weiterhin unsere beschlossene Politik durchzuführen. Aber er ist nicht ungefährlich, denn wir sind nicht sicher vor Ämtern, die ihn für bare Münze nehmen, und vor Gerichten, die entsprechende Maßnahmen absegnen.

Im Übrigen zeugen diese Vorgänge nicht nur von politischer Inkompetenz, sondern wir erfahren auch über parlamentarische Untersuchungsausschüsse ständig neue entsetzliche Details über die Verstrickung der „Verfassungsschutz“ämter in den „NSU“-Skandal und ihre Rolle bei der versuchten Vertuschung der Hintergründe dieser Mordserie. Wir sollten also nach meiner Meinung bei der Forderung bleiben, die auch in den Beschlüssen unserer letzten LDK wieder enthalten ist: den „Verfassungsschutz“ aufzulösen.